Per Anhalter durch meine Galaxis - Gedanken und Geschichten nicht nur von dieser Welt

"The following statement is false:
The previous statement is true.
Welcome to our corner of the universe

Anonymous
Seefra Denizen
CY 10210"
(Andromeda: The Past is Prolix)

Sonntag, 1. September 2013

Sonntags-Pausen-Krimi 18: Spuren


Spuren

Mein Name ist Montgomery Leopold, und mein bester Freund ist vor fünf Nächten ermordet worden.
    Ich kannte ihn fast mein ganzes Leben lang, und seit mehr als zwölf Jahren wohnten wir zusammen. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe, weil es unter unserem gemeinsamen Dach passierte, während ich ein Stockwerk höher lag und schlief. Leider höre ich nicht mehr so gut wie als junger Spund.
    Deshalb bekam ich es nicht sofort mit, wie mein alter Freund Gordon, der noch einmal die Treppe hinabgestiegen war, um sich einen Schlummertrunk zu genehmigen, wie er es manchmal tat, wenn der Tag sehr aufregend gewesen war, diesen Einbrecher im Kaminzimmer überraschte. Ich spürte plötzlich, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber als ich unten ankam, war es bereits geschehen.
    Die Polizei sagte, es sei ein kurzer Kampf gewesen, in dessen Verlauf der Einbrecher den Schürhaken zu greifen bekam und ihn Gordon über den Schädel zog. Leider scheint die Polizei nicht genügend Hinweise zu haben, um auch nur einen Verdacht aussprechen zu können. Ein durchreisender Gelegenheitseinbrecher, vermuten sie.

    Ich hoffe, Gordons Sohn Dexter sorgt dafür, dass ich mit zur Beerdigung komme. Ich kann leider nicht selber Auto fahren, und zum Laufen ist es mir mittlerweile wirklich zu weit.
    Dexter wird sich jetzt auch um mich kümmern, die gute Seele. Es wäre schlimm, wenn ich mich auf meine alten Tage alleine durchschlagen müsste.

    Am Tag nach dem Einbruch schlich ich mich an der Polizei vorbei ins Kaminzimmer, um mich dort ein bisschen umzusehen. Ich weiß nicht, warum ich das tun musste. Und hätte ich es nur besser nicht getan.
    Dort hatte er in der Nacht zuvor gelegen, mein alter Freund. Der Blutfleck war noch im dunklen Teppich zu erkennen. Genauso wie die anderen Flecken. An denen standen allerdings keine kleinen Schildchen mit Nummern, wie am großen Blutfleck und dort, wo der Schürhaken und die verstreuten Scherben von Gordons Schlummertrunkglas gelegen hatten. Aber diese Flecken verteilten sich doch über die ganze Strecke zwischen Kamin und Terrassentür. Wie konnten sie die übersehen haben? Nun gut, dunkle Flecken auf dunklem Teppich. Aber trotzdem fand ich das schlampig.
    "Ach, da sind Sie ja, Mr. Leopold." Dexter stand plötzlich in der Tür zum Kaminzimmer. Er hatte mich schon immer Mr. Leopold genannt, obwohl ich gegen Montgomery auch nichts einzuwenden gehabt hätte. Ich hatte den Jungen vom ersten Tag an gemocht.
    "Was machen Sie denn ausgerechnet hier?"
    "Ich wollte mich nur etwas umsehen."
    "Kommen Sie. Es ist mittlerweile Zeit für's Abendessen. Sie müssen etwas essen. Ich mache mir ohnehin schon Sorgen um Sie."
    Ich schlurfte mit hängendem Kopf hinter Dexter her aus dem Kaminzimmer hinaus. Ich hätte wirklich nicht noch einmal dort hinein gehen sollen. Der Schmerz über den Verlust meines besten Freundes traf mich mit voller Wucht, als sich die Tür hinter uns schloss. Mir wurde schwarz vor Augen und meine Knie wurden weich.

    "Mr. Leopold," hörte ich Dexters Stimme aus weiter Entfernung, "ich sagte doch, Sie müssen etwas essen! Wenn Sie sich weigern, rufe ich Dr. McGregor!"
    "Lass nur, Junge."
    Er hatte recht. Das warme Ragout tat wirklich wohl.
    "Und, Mr. Leopold," sagte er, ohne mich und mein Ragout aus den Augen zu lassen, "Sie haben sicher nichts dagegen, dass ich erst einmal hier einziehe. Dann sind wir beide nicht so alleine."
    Ich nickte dankbar und kaute weiter.
    "Nur werde ich das Haus vermutlich nicht halten können," fuhr er fort. "Ein so großes Anwesen. Aber ich will ja Vaters Testament nicht vorgreifen. Vielleicht haben Sie ja das Haus geerbt."
    Er lachte und trank einen Schluck Rotwein.
    "Aber ich fürchte, das würde nichts an dem Problem ändern, dass es verkauft werden muss. Ich glaube nicht, dass die Mieteinnahmen aus Vaters Häusern im Dorf tatsächlich dafür ausreichen."
    Ich ahnte, dass er recht hatte. Ich verstand von diesen Dingen nichts, darum hatte sich immer Gordon gekümmert.
    Dexter musste die Bedenken in meinen Augen gesehen haben, denn er lehnte sich vor und flüsterte: "Aber sollten wir verkaufen müssen, dann investieren wir den Erlös in eine schöne Wohnung in Glasgow, und dort sorge dann ich für Sie, Mr. Leopold."
    Vor Rührung blieb mir fast das Ragout im Hals stecken. Er war und blieb ein guter Junge. Unser Dexter.

    Auch während der Trauerfeier war Dexter stets an meiner Seite. Ich weiß nicht, was schlimmer war. Die Tatsache, an Gordons Grab stehen zu müssen, während ich eigentlich gehofft hatte, eines nicht allzu fernen Tages in seinen Armen sterben zu dürfen, oder die teils mitleidigen, teils abschätzigen Blicke, die mir die anderen Trauergäste zuwarfen.
    "Er gehört zur Familie," hatte ich Dexter ein paar Spinatwachteln zuzischen hören, als ich noch im Auto saß. "Mehr als das. Er war sein bester Freund. Er hat mehr für Vater getan als ihr alle zusammen. Also spart euch euer selbstherrliches Gegeifer, wenn er jetzt mit in die Kapelle und auf den Friedhof geht, um sich zu verabschieden!"
    Ich versuchte, mich auf andere Dinge zu konzentrieren, als auf diese Blicke und die Worte des Geistlichen.
    Ich beobachtete die Vögel in den Bäumen, lauschte auf den Gesang der Blätter im Wind, bemerkte ganz in der Nähe …
    "Mr. Leopold?" Dexters leise Worte rissen mich aus meinen Gedanken.
    Wir traten an Gordons Grab. Ich könnte nur stumm zusehen, wie Dexter das Schäufelchen zur Hand nahm, um etwas Erde hinab zu werfen, denn ich musste mich sehr anstrengen, damit der Schmerz und die Trauer mir nicht wieder die Beine weich werden ließen.
    Wir blieben noch kurz schweigend nebeneinander dort stehen und blickten auf den Eichenholzsarg hinab, der das Liebste vor unseren Augen verbarg, was wir beide besessen hatten.
    Wie betäubt stellte ich mich mit Dexter neben dem Grab auf, und wir nahmen die Beileidsbekundungen der Trauergäste entgegen, eine falscher als die andere. Wie konnte es nur gekommen sein, dass solch ein wunderbarer Mann nur so wenige echte Freunde hatte?
    Besonders schlimm war dieser eine Mensch gewesen, Mr. Campbell, der regelmäßig gekommen war, um bei Gordon Mietaufschub zu erbitten. Manchmal hatte er ihn bekommen, meistens aber eben nicht. In diesen Fällen war er immer äußerst zornig davon gezogen. Aber wie Dexter sagte, die Mieteinnahmen finanzierten das Haus und unser Leben. Das war halt so.
    Nun stand Mr. Campbell hier vor uns, neben Gordons offenem Grab und funkelte Dexter und mich an, was gar nicht zu seiner Freundlichtuerei passte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Da war ich mir sicher. Und zwar mehr als nur die Tatsache, dass er Gordon immer erst angeschleimt hatte, wenn er etwas von ihm wollte, um ihn anschließend zu beleidigen, wenn er es nicht bekam.
    Gordon hatte das meinen "sechsten Sinn" genannt. Oder auch mein "zweites Gesicht". Er hatte solche Metaphern geliebt. 'Wir echten Schotten besitzen das manchmal,' hatte er dann gesagt. Dabei war ich eigentlich gar kein "echter" Schotte.
    Aber jetzt lag er dort unten in einer Kiste in der Erde, und ich konnte mir gerade nicht erklären, warum ich den Wunsch verspürte, ausgerechnet diesem Menschen vor mir auf die Schuhe zu kotzen, wie er da stand und Dexter seine Hand mit dieser schmutzigen Bandage entgegenstreckte.
    Also drehte ich mich lieber um und ging zu Dexters Auto zurück. Er würde es verstehen, und ob die anderen Dorfbewohner, die noch in der Schlange standen, um uns ihr Beileid zu heucheln, sich jetzt vor den Kopf gestoßen fühlten, war mir egal.

    Am Abend saßen Dexter und ich wieder zusammen in der Küche. Er trug immer noch seinen schwarzen Anzug und das weiße Hemd. Nur den Schlips  hatte er noch im Wagen ausgezogen und beim Betreten des Hauses einfach über die Garderobe geworfen.
    "Wissen Sie, Mr. Leopold,"begann er nach einer Weile, "Mr. Campbell ist gar kein schlechter Mensch. Er hat nur sehr viel Pech gehabt in seinem Leben. Seine Arbeit bringt nicht viel ein, und es gibt Zeiten, da muss er sogar befürchten, sie ganz zu verlieren. Zudem ist er nicht ganz gesund. Seine Frau ist tot und seine Tochter noch so jung. Ich fürchte, Vater war manchmal ein wenig zu hartherzig zu den Menschen."
    Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte! Mr. Campbell kein schlechter Mensch, aber Gordon hartherzig?
    "Jetzt hör mir mal gut zu, Junge," knurrte ich.
    "Es ist doch wahr, Mr. Leopold," unterbrach er mich. "Ich habe noch kein komplettes Bild von Vaters finanzieller Situation. Aber ich kann mir nicht denken, dass es für ihn ein dermaßen großer Verlust gewesen wäre, wenn er Mr. Campbell und dem einen oder anderen seiner Mieter ein wenig mehr entgegengekommen wäre. Ich meine, was hat er jetzt davon? Mitnehmen kann man sein Geld und Gut ja doch nicht. Was bleibt, ist das, was die, die man zurücklässt, von einem denken. Nicht wahr, Mr. Leopold? Sie und ich, wir liebten ihn. Sie noch dazu auf Ihre eigene Weise. Und jetzt tut es uns weh, wie die Menschen am Grab getuschelt haben. Wenigstens sind sie überhaupt gekommen."
    Er stand auf und schenkte uns beiden frisches Quellwasser ein, das einzige, was wir heute Abend wohl herunterbekommen würden.
    "Und haben Sie gesehen," fuhr er fort, "dass Mr. Campbell eine Verletzung an der Hand hatte? Und trotzdem muss er weiter arbeiten. Kann sich nicht mal ein paar Handschuhe leisten, der arme … Mr. Leopold? Was haben Sie?"
    Ich war plötzlich starr vor Schreck geworden. Mir war klar geworden, was mich an diesem Menschen gestört hatte. Ich stand auf und ging langsam zur Tür des Kaminzimmers.
    "Mr. Leopold," Dexter war mir gefolgt. "Was wollen Sie denn schon wieder da drin?"
    "Bitte, öffne die Tür für mich."
    Er drehte den Knauf und schob die Tür ein Stück auf. "Sind Sie wirklich sicher, dass Sie da hinein wollen?"
    Aber ich hatte mich schon an ihm vorbei in den Raum gedrückt, ging vorsichtig zu den kleinen Flecken vor der Terrassentür und beugte mich zu ihnen hinab.
    "Was ist denn da, Mr. Leopold?" fragte Dexter und ging neben mir in die Hocke.
    "Siehst Du das nicht? Da sind noch mehr Flecken. Die waren vorher auch nicht da. Aber hier haben keine Schildchen gestanden."
    Dexter stand auf und knipste eine Stehlampe an, deren Licht genau dort auf den Teppich fiel. Dann ließ er sich vorsichtig auf Knie und Hände nieder und betrachtete mit großen Augen beide Muster im Teppich, das gewebte und das andere.
    "Flecken! Noch mehr Blut?" Er richtete sich auf und sah sich im Zimmer um. "Die Spurensicherung hat mittlerweile die Schildchen alle weggeräumt. Aber ich könnte schwören, dass hier hinten gar keine gestanden haben! Die Polizei wird doch wohl diese Flecken nicht übersehen haben?"
    Er seufzte und stand auf. "Es wird wohl auch Vaters Blut sein. Aber ich werde sicherheitshalber mal auf dem Revier Bescheid sagen. Danke, Mr. Leopold. Kommen Sie. Vorsichtig. Treten Sie nicht darauf."

    Am nächsten Tag erschienen erneut zwei Mitarbeiter der Spurensicherung. Es stellte sich heraus, dass es sich nicht um Gordons Blut handelte, denn der Besitzer hatte die seltene Blutgruppe AB, was bei Gordon nicht der Fall gewesen war.
    Es ließ sich schnell feststellen, dass lediglich zwei Menschen in unserem Dorf diese Blutgruppe besaßen. Mr. Campbell und seine Tochter.
    Auch das Geständnis hatte die Polizei schnell. Es war kein anonymer Einbrecher gewesen, der Gordon erschlagen hatte.
    Mr. Campbell wollte an jenem Abend ein weiteres Mal um Geld oder wenigstens eine Stundung oder einen Aufschub bitten. Aber Gordon hatte abgelehnt. Darauf hatte Mr. Campbell, wohl in seiner Verzweiflung, Gordon bedroht. Aber der hatte ihn nur verspottet.
    Behauptete zumindest Campbell.
    Dann war es zum Kampf gekommen, und Campbell hatte sich an der Hand verletzt, als Gordons Glas zu Bruch gegangen war. Nach dem Schlag mit dem Schürhaken hatte er das Zimmer über die Terrasse verlassen, aber noch die Tür von außen hinter sich zugezogen. Da wir sie nie verschlossen hielten, war das wohl nicht aufgefallen.

    "Eigentlich eine unglaubliche Schlamperei," sagte Dexter nach der Gerichtsverhandlung. "Ohne Sie hätten wir niemals herausbekommen, wer Vater getötet hat, Mr. Leopold."
    Ich war zu erschöpft, um Stolz zu empfinden. Es war ein langer Tag gewesen. Und was konnte ich schon für meinen guten Geruchssinn, der Angstschweiß und Blut erkennen kann? Ich setzte mich neben Dexter und ließ mich hinter den Ohren kraulen.
    "Übrigens, ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich beantragt habe, Mr. Campbells Tochter bei uns aufnehmen zu dürfen, wenn wir nächsten Monat nach Glasgow ziehen. Die Kleine hat doch hier niemanden mehr. Und so können wir wenigstens ein bisschen was wiedergutmachen."
    Ich legte meinen Kopf auf Dexters Schoß.
    "Ich bin sicher, Mr. Leopold, dass Sie und die kleine Merida sich gut verstehen werden. So ein herzensguter Golden Retriever wie Sie ist genau das, was eine verletzte, junge Seele braucht."
    Ich schloss die Augen und träumte. Montgomery Leopold – Verbrechensbekämpfer und Beschützer der Waisen. Ich kann nicht glauben, dass das Gordon nicht gefallen hätte.




Copyright Esther Koch 31. August 2013

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