Per Anhalter durch meine Galaxis - Gedanken und Geschichten nicht nur von dieser Welt

"The following statement is false:
The previous statement is true.
Welcome to our corner of the universe

Anonymous
Seefra Denizen
CY 10210"
(Andromeda: The Past is Prolix)

Sonntag, 22. April 2012

Sonntags-Pausen-Krimi 11: Zu Philippi will ich denn dich sehn

Zu Philippi will ich denn dich sehn

Sein Atem ging schwer. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Mühsam richtete Markus sich auf, lehnte sich gegen den dunkelblauen BMW und betrachtete das blutige Messer in seiner zitternden, mit schwarzem Leder bekleideten Hand.
Er sah an sich herab und beobachtete für ein paar Momente fasziniert das dunkelrote Glitzern auf seiner Jacke im zarten Licht der Mittmärz-Morgensonne. In der nächsten Sekunde stürzte er unter einer Magnolie auf Knie und Hände und übergab sich.
In seiner Phantasie war alles viel leichter gewesen. In seiner Phantasie hatte sich der ältere Mann schweigend und ohne Gegenwehr seinem Schicksal ergeben. In Wirklichkeit aber hatte Universitätspräsident Professor Dr. König nach der ersten Schrecksekunde, nachdem er Markus und dessen Absicht erkannt hatte, um Hilfe geschrien.
Niemand würde ihn hören, dessen war sich Markus längst sicher, als er sich seinem Vorgesetzten näherte, der bereits auf dem kurzen Weg zwischen Haus und Wagen seine Rede für die heutige Sitzung des Universitätssenats geübt und Markus erst im letzten Moment entdeckt hatte.
Das Haus lag weit genug vom benachbarten Grundstück entfernt, die Ehefrau war auf ihrem halbjährlichen Wellnessurlaub zusammen mit ein paar anderen Professorengattinnen.
Trotzdem hatte Professor Königs heftige Reaktion Markus aus dem Konzept gebracht, und er war fast zu langsam gewesen. Sein Zögern hatte dem Professor die Gelegenheit gegeben, mit der Aktentasche nach Markus zu schlagen. Fast wäre ihm dabei das Messer aus der Hand gefallen!
Dann aber hatten Panik und Wut von Markus Besitz ergriffen. Er hatte seinen alten Doktorvater gegen die Hauswand gestoßen und zugestochen, zugestochen, zugestochen, einundzwanzig-, zweiundzwanzig-, bestimmt dreiundzwanzigmal.

Nun kniete er hier, von seines Dienstherrn Blut bepurpurt und zitternd in seinem eigenen Erbrochenen und war den Tränen nahe. Warum eigentlich? Der erste Schritt seines Planes war doch geglückt. Und zugleich der wichtigste. Wirklich schwierig würde es erst noch werden.
Er stand auf und atmete ein paarmal tief durch die Nase ein. Die kalte Morgenluft half ihm, seine Gedanken zu sortieren.
Er zählte innerlich bis drei, dann zwang er sich, in die Innentaschen des Toten zu greifen und seine Brieftasche und das Mobiltelefon herauszuholen. Ein Raubmord sollte es gewesen sein! Nun noch die Aktentasche. Markus fand sie halb unter das Auto gerutscht und nahm sie an sich.
Den BMW hatte Professor König bereits entriegelt und die Fahrertür geöffnet gehabt. Markus überlegte. Sollte er sich den Wagen auch noch vornehmen? Würde ein Raubmörder erwarten, im Handschuhfach eines Universitätsprofessors Wertsachen zu finden?
Sicherheitshalber schwang er sich auf den Fahrersitz, lehnte sich hinüber und öffnete das Handschuhfach. Er wühlte mit der rechten Hand darin herum und zog den Inhalt heraus, so dass dieser sich auf dem Boden und dem Beifahrersitz verteilte. Er fand jedoch nichts, was mitzunehmen sich gelohnt hätte.
Er stieg wieder aus dem Wagen und ging zum Tor hinunter. Vorsichtig blickte er nach rechts und links. Er war immer noch allein, wie erwartet. Er lief zu seinem eigenen Auto, das er einige Meter entfernt auf der asphaltierten Einfahrt zu einem Waldweg geparkt hatte.
Er zog den rechten Handschuh aus und öffnete den Kofferraum, in dem sich einige blaue Müllsäcke befanden. In einen davon steckte er des Professors Aktentasche, die Brieftasche und das Telefon. In einen anderen stopfte er seine Handschuhe und Jacke. Diesen ließ er seine Schuhe und Jeans folgen, und zog frische Kleidung an.
Als Markus endlich hinter dem Steuer seines Wagens saß, merkte er, wie stark er noch schwitzte. Nach Hause zu fahren und zu duschen fehlte ihm jedoch die Zeit. Um Zehn begann seine Vorlesung, zu der er nicht zu spät kommen durfte. Um die gefährliche Fracht in seinem Kofferraum würde er sich erst heute Abend kümmern können.
Auf der Fahrt zur Universität ging Markus in Gedanken noch einmal alle Eventualitäten durch. War die Gefahr nun endgültig gebannt? Hatte Professor König sein brisantes Wissen, mit dem er Markus zu erpressen versucht hatte, möglicherweise irgendwo schriftlich niedergelegt? Oder hatte er das Wissen um die Tatsache, dass seine eigene verheiratete Tochter ein Verhältnis mit einem Dekan seiner Universität hatte, noch dazu dem seiner eigenen Fakultät, mit ins Grab genommen?
Das zumindest hoffte Markus. Nun würde niemand mehr versuchen, ihn zu zwingen, seine Position und vielversprechende Karriere aufzugeben, seine Alma Mater, seine Geliebte Julia und seine Heimatstadt zu verlassen.
Markus fuhr auf seinen Parkplatz vor dem Gebäude der Philologischen Fakultät, stellte den Motor ab und schloss die Augen.
Jetzt galt es, Ruhe zu bewahren. Niemand ahnte etwas. Niemand würde einen Zusammenhang sehen. Professor König hatte sich sicher niemandem anvertraut. Auch Julia hatte keine Ahnung, dass ihr Vater über sie beide Bescheid wusste. Das hatte Markus durch vorsichtiges Nachfragen bei ihrem letzten Treffen vor zwei Tagen herausgefunden.
Er atmete tief ein und öffnete die Augen. Sein Blick fiel auf den Rückspiegel, und auf die Reflexion darin! Das bleiche Gesicht Professor Königs! Er stieß einen Schrei aus und warf sich herum.
Nichts. Der Rücksitz war leer.
Markus schluckte ein paarmal, aber sein Mund war plötzlich von sandiger Trockenheit. Er schüttelte den Kopf und zwang sich zur Ruhe. Schnell stieg er aus und zog dabei seine Aktentasche vom Beifahrersitz mit sich. Er schloss die Autotür und verriegelte den Wagen.
Er sah an sich hinunter und erstarrte. Von der zerschrammten und verkratzten Aktentasche in seiner Hand tropfte Blut auf seine Schuhe. Das war nicht seine Tasche, sondern die Professor Königs! Wie war das möglich? Die hatte er doch in eine Tüte gesteckt und im Kofferraum verstaut!
Rasch lief er um seinen Wagen herum und griff nach dem Kofferraumriegel.
"Morgen, Professor Ruga!"
Markus wirbelte herum und ließ die Tasche fallen. Er blickte in die lächelnden Gesichter zweier Studenten, die sein Hauptseminar besuchten.
"Alles in Ordnung, Professor Ruga?" fragte der größere der beiden jungen Männer, während der andere langsam auf Markus zu ging, sich bückte und ihm die Aktentasche reichte.
Markus starrte die Aktentasche an. Seine Aktentasche. Ohne Kratzer, ohne Blut, dunkelbraun, nicht schwarz wie die des toten Universitätspräsidenten.
"Professor?" Der kleinere Student hielt ihm immer noch die Tasche entgegen.
Langsam griff Markus danach. Er brachte ein gezwungenes Lachen fertig. "Ach, danke, meine Herren. Ich dachte … ich dachte, ich hätte etwas vergessen, aber ich habe mich doch geirrt. Ich sehe Sie dann heute Mittag."
Die beiden Studenten lächelten gequält und gingen schweigend weiter zum Hörsaalgebäude.
Markus ging schnellen Schrittes ins Fakultätsgebäude, lief die Treppe in den ersten Stock hinauf und betrat die Herrentoilette. Erleichtert stellte er fest, dass sie leer war. Er stellte die Aktentasche auf dem Boden ab und drehte den Wasserhahn auf. Zunächst kühlte er sein aufs Neue schweißüberströmtes Gesicht. Dann spülte er sich den Mund aus, um den letzten Geschmacksrest von Erbrochenem loszuwerden.
Er richtete sich auf und sah in den Spiegel.
Hinter ihm stand Professor König! Bleich und blutend!
Markus blieb der Schrei diesmal in der Kehle stecken. Er rannte los Richtung Tür und stolperte dabei über die Aktentasche. Ohne sich umzublicken, rappelte er sich auf, lief weiter und zerrte die Tür hinter sich zu.
Zitternd und nach Atem ringend blieb er an die Korridorwand gelehnt stehen.
"Geht es Ihnen nicht gut, Professor Ruga?"
Markus fuhr zusammen und sah sich seiner Sekretärin gegenüber. "Hach, Frau Marius. Nein, ich …"
Die Aktentasche! Er hatte sie in der Toilette gelassen! Er musste noch einmal dort hinein! Alleine? Er konnte wohl kaum seine Sekretärin bitten, ihn auf die Herrentoilette zu begleiten. Er hatte sich bis jetzt schon verdächtig genug verhalten.
"Oh, warten Sie mal bitte kurz?" bat er sie.
"Selbstverständlich, Herr Professor."
Langsam öffnete er die Toilettentür, stückweise, bis er in den großen Raum hineinsehen konnte. Da lag seine Tasche. Von Professor König keine Spur. Er riss die Tür vollständig auf, sprang hinein, griff nach seiner Aktentasche und war bereits wieder auf dem Korridor, noch bevor sich die Tür überhaupt hatte schließen können.
Frau Marius sah ihn fragend an. "Was kann ich denn für Sie tun, Professor Ruga?"
"Ach, lassen Sie mal gut sein. Das hat noch Zeit bis nachher. Aber wenn ich aus der Vorlesung komme, dann würde ich mich über einen starken Kaffee sehr freuen."
"Aber gerne, Herr Professor. Wollen Sie nicht vielleicht sofort eine Tasse …?"
"Nein, danke, ich bin schon spät dran," antwortete Markus, während er bereits wieder den Korridor entlang hastete.

Im Hörsaal angekommen, schwang Markus seine Aktentasche auf das Pult, öffnete sie und entnahm ihr seine Vorlesungsaufzeichungen. Er schloss die Tasche und stellte sie neben dem Pult ab.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Eine Minute vor Zehn. Er schaltete das Mikrophon ein und holte tief Luft.
"Guten Morgen, meine Damen und Herren." Sein Mund war immer noch trocken. Er leerte das bereitgestellte Glas Wasser in einem Zug, bevor er fortfuhr.
"Wir haben uns letzte Woche mit der Frage befasst, ob das Erscheinen des blutigen Dolches und von Banquos Geist bei Macbeths Krönungsmahl eher Zeichen aufkeimenden Wahnsinns oder übernatürliche Phänomene …"
Mit einem Mal war Markus' Gehirn leer. Dort, in der zweiten Reihe, saß Professor König. Bleich, blutig und den starren Blick auf ihn gerichtet.
Markus kniff die Augen zusammen. Jetzt nur nicht durchdrehen, zwang er sich zu denken. Er öffnete die Augen. Der Sitz in der zweiten Reihe war leer.
"Professor Ruga?" Eine Studentin in der ersten Reihe hatte die Hand gehoben. "Entschuldigung, Professor, aber Macbeth haben wir doch vor einigen Wochen schon abgeschlossen. Wir wollten doch heute über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Hamlet und Brutus sprechen."
Markus begann, in seinen Papieren zu wühlen. Wie konnte er sich nur so irren? Natürlich hatte sie Recht.
Er räusperte sich. "Selbstverständlich. Hamlet. Brutus. Wie auch Macbeth haben Hamlet und Brutus Blut an den Händen. Aber warum ist uns Hamlet sympathischer als Macbeth? Warum haben wir Mitleid mit Brutus, aber schütteln über Hamlet den Kopf? Was hat sie zu den Taten getrieben, die sie …"
Der tote König! Da saß er wieder, nun auf der anderen Seite des Hörsaales weiter oben!
Das bildest du dir ein! Rede weiter! "Brutus," Markus schluckte. Das Sprechen fiel ihm schwer, "hatte keine Wahl. Er musste Caesar töten. Sonst wäre alles rausgekommen."
Verschwommen sah Markus, wie einige Studenten einander anschauten, den Kopf schüttelten, die Stirn runzelten.
Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt, oder?
"Sonst wäre," begann er erneut, "die Republik zugrunde …"
Markus taumelte vom Rednerpult zurück. Dort lag sein Messer, blutglänzend, zwischen seinen Notizen.
Er sah auf, und dort, neben der ersten Reihe, stand Professor König und starrte ihn an. Markus wich an die andere Wand des Hörsaales zurück. Einige Studenten standen auf, manche näherten sich ihm, andere begannen, langsam die Stufen zu den Türen hinaufzusteigen.
Eine der Türen öffnete sich. Drei Männer und eine Frau traten ein. Zwei der Männer trugen Uniformen. Polizei! Und die Frau …
"Julia!" Markus dachte nicht daran, dass er sie eigentlich gar nicht kennen durfte, sondern rannte die Stufen hinauf, auf sie zu.
"Das ist er, Herr Kommissar," sagte Julia zu dem Mann ohne Uniform. "Ich habe gesehen, wie er meinen Vater getötet hat. Ich hatte die Nacht bei meinem Vater im Haus verbracht, weil ich so eine merkwürdige Vorahnung hatte. Ich habe durch das Wohnzimmerfenster alles mit angesehen."
Markus wurde schwindelig. Er drehte sich herum und schaute in den Hörsaal hinab. Dort, am Rednerpult, sah er, bevor die Dunkelheit ihn umfing, Professor König, geschmückt mit Blut, dem edelsten der Welt, lächelnd.




Copyright Esther Koch 17. April 2012

1 Kommentar:

Wolfgang Weitzdörfer hat gesagt…

Super! :-)
(ja, ich kann auch kurz...)